515 Autobahnkirche Andeer entworfen von Herzog & de Meuron
Author: Dipl.-Ing. Architekt BDA Andreas Thiele
Die Idee für die Kapelle in Andeer wurde stark von der Umgebung und der Straße geformt, an der die Kirche liegt. Das Architekturbüro Herzog & de Meuron wollte nicht mit religiösen Zeichen oder Symbolen arbeiten, geschweige denn mit christlichen Symbolen wie z.B. Kreuz oder der Darstellung Christi, vielmehr suchte man nach einem Entwurfsansatz, der die Wahrnehmung für den Ort und die Natur schärft.
Die Realität zeigt, dass Autobahnkapellen sehr beliebt sind. Es ist jedoch trotzdem überraschend, dass die Gemeinde Andeer beschlossen hat, eine Autobahnkapelle zu bauen, da es bereits mehrere Kapellen gibt. Teilweise Jahrhunderte alt und eingebettet in die Landschaft, bilden sie einen wichtigen Teil der regionalen Kultur.
Das Projekt war für Herzog & de Meuron eine Herausforderung, da weder das räumliche Programm noch der Standort klar definiert waren. Die Entwicklung des Architekturkonzepts nahm im Verlauf mehrerer Gespräche mit Vertretern der Gemeinde und dem Pastor von Andeer Gestalt an.
Da der Standort dicht an einer Autobahn liegt ist der Verkehrslärm eine technische und gestalterische Herausforderung. Eine Alternative zu einer einzigen Tür, die das Innere und das Äußere akustisch trennt, musste gefunden werden. Am Ende entstand eine Abfolge von Räumen, mit verschiedenen und unterschiedlich aufgebauten Kammern, die das menschliche Ohr nachahmen sollen. Inspiriert vom funktionalen Design des menschlichen Ohrs, aber nicht eingeschränkt, begannen Herzog & de Meuron mit der abstrakten Form eines weißen Würfels. Diesen unterteilten sie in eine Vielzahl von Zonen und definierten sein komplexes Innenleben.
Dieser Entwurfsansatz dämpft die Geräusche von der Autobahn und verstärkt den Klang der Schritte der Besucher. Der letzte der Räume dieser Raumfolge ist das Herz der Kapelle. Der Raum ist lichtdurchflutet und bietet einen Rundblick auf Landschaft und Ort. Die Wahrnehmung der Flora wird durch das komplementäre Rot einer raumhohen Scheibe aus getöntem Glas verstärkt. Die am Abend untergehende Sonne scheint durch das Glas und kreiert, in dem in Richtung der Landschaft geöffneten Teil der Kapelle, ein faszinierendes Lichterspiel. Die Architektur schafft es die eigene Wahrnehmung zu schärfen; ob vom Anblick des Himmels oder der Wahrnehmung von externen und internen Geräuschen, wie der Schritte oder des eigenen Atmens. Der Typus des geschlossenen Würfels wirkte jedoch unvollständig, zu hermetisch und zu architektonisch durchplant. Er stellte die Architekten nicht zufrieden.
In dem Bestreben, ein Gebilde zu schaffen, welches kein geschlossenes und begrenztes Gefühl vermittelt, haben Herzog & de Meuron die Kapelle so gestaltet, dass sie eher einem Pfad ähnelt, der in das Innere führt und ebenso wieder heraus leitet. Dies führt dazu, dass die Kapelle wie einen Gang durch eine Höhle wirkt. Der letzte Raum mit der roten Glasscheibe öffnet sich zu einem höhlenartigen Oval, das an frühchristliche oder heidnische Stätten erinnert, die Archäologen in der Nachbargemeinde Zillis entdeckt haben.
Entlang des trichterförmigen Erdraums finden Besucher zwei weitere kleine Kapellen. Eine kleine, runde Kapelle für Leser, die in sanftes Tageslicht von oben getaucht ist. Und eine zweite Kapelle mit einer Kerze, einer matten Wand und einem einzigen Oberlicht. Dies ist der persönlichste Ort für Besucher; hier wird man mit sich selbst konfrontiert.
Herausgeber: Dipl.-Ing. Architekt BDA Andreas Thiele